Rasante Talfahrt

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Noch vor sechzig Jahren dienten große Hörnerschlitten, die Schalenggen, als einzig mögliche Transportmittel vom Berg ins Tal. Mittlerweile werden die alten Schlitten nur noch am Faschingssamstag aus den Stadeln in Pfronten und Umgebung hervorgeholt: Dann findet in Pfronten-Kappel das größte Schalenggenrennen statt.

Wenn der Schnee nicht zu hoch lag, brachen in Pfronten-Kappel vom Tal einst starke Männer gen Berg auf. Große Hörnerschlitten zogen sie hinter sich her – Schalenggen genannt. Manchmal mussten sie die Schlitten auf dem Rücken tragen. Es war ein harter, steiler Aufstieg im Schnee. Ziel der Ostallgäuer war ein Hochmoor oben am Berg. Dort lag das Heu, das im Sommer gemäht wurde, zum Trocknen in einem Stadel. Weil es keinen Weg gab, der zu dem Hochmoor geführt hätte, und weil das Gelände so unwegsam war, gab es im Sommer keine Möglichkeit, das Heu ins Tal zu bringen. Dasselbe galt für das Brennholz. Deswegen machten sich einmal in jedem Winter Männer auf, um Heu und Holz auf den Schalenggen ins Tal zu transportieren.

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Bis zum Schlittenbruch

Ein gefährliches Unterfangen, denn die vollbeladenen Holzschlitten hatten weder Metallbeschlag noch Bremse und schon gar keine Lenkhilfe. Nur zu zweit konnten die Männer eine Schalengge fahren. Einer saß vor der Ladung auf dem Schlitten und sorgte dafür, dass die Richtung stimmte. Der Hintermann stand auf einem Stück Holz und musste schieben oder bremsen. Unfälle gab es viele. Gingen sie glimpflich aus, kippte lediglich die Schalengge um und musste neu beladen werden. Jedoch brach sich auch nicht selten einer der Männer ein Bein und manchmal kam es zum Schlittenbruch. Verliefen die Transporte hingegen gut, nahmen die Dörfler die rasante Talfahrt drei bis vier Mal am Tag auf sich. „Heute sitze ich ins Auto und fahre rauf“, sagt Hanne Allgayer, Vorsitzende des Kappeler Schalengger Vereins. Doch eben weil es heutzutage so selbstverständlich geworden ist, mit dem Auto scheinbar überall hinfahren zu können, liegt der Pfrontnerin das alljährliche Schalenggenrennen am Faschingssamstag so am Herzen. Zwar sausen die bis zu 200 Teilnehmer nur zum Spaß und ohne Ladung ins Tal. „Aber um den Sieg geht es da nicht“, erzählt die 75-jährige Kappelerin. „Jeder ist froh, wenn er unten ist.“ Mit dieser Einstellung zollen die Gaudi-Rodler den Dörflern von damals den Respekt, den ihre Schalenggenabfahrt verdient – wobei ‚damals‘ zeitlich zu fern klingt.

Noch bis in die 1960er Jahre wurden die Hörnerschlitten zum Transport von Heu und Holz ins Tal genutzt. Hanne Allgayer zählt sich zu den letzten Frauen, die im Sommer mit Heugabel und Rechen auf dem Rücken den Aufstieg zum Hochmoor antraten, um zu heuen. Mitte der 70er Jahren sammelte sich in den Kappeler Scheunen bereits der Staub auf den Schalenggen, als am Stammtisch die Idee aufkam, die alten Schlitten für ein Rennen hervorzuholen. Am Faschingsdienstag war es dann so weit: Einige Männer probierten das Rodeln auf einer alten Bahn aus. Dabei hatten sie so viel Spaß, dass das erste „Allgäuer Schalengg’e Rennen“ schnell beschlossene Sache war.

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Präpariert wird die Strecke seit jeher nicht. „Das ist eine Naturbahn, da wird nichts gerichtet“, betont Allgayer. So werde der Schnee lediglich mit den Füßen festgetreten, mit einer Schaufel weiterer Schnee aufgeschüttet und erneut festgetreten. Weil die Strecke unübersichtlich ist, stehen während der einen Kilometer langen Abfahrt Helfer mit Fahnen bereit, die den Weg freigeben, damit der nötige Sicherheitsabstand eingehalten wird. Trotzdem bangt die 75-Jährige jedes Mal um die Teilnehmer: „Du hoffst immer, dass nichts passiert.“ Und weil sie nach über zwanzig Jahren Vorstandschaft genug gezittert hat, möchte die Rentnerin den Verein nach dem nächsten Rennen verlassen. Denn dass die Tradition auch ohne sie fortbestehen wird, dessen ist sich Hanne Allgayer sicher. Schließlich erwartet sie stets schon in der Weihnachtszeit die ersten Anrufe zur Anmeldung. „Das Schalenggenrennen ist immer ein großes Hallo und ein Fest. Die Leute, die da zusammenkommen, sehen sich meistens nur einmal im Jahr. Sie kommen von überall her.“ Mit ‚überall‘ meint die Pfrontnerin beispielsweise aus Tirol, Holland, Spanien und sogar Amerika. Doch was passiert, wenn am Faschingssamstag der Schnee auf sich warten lässt? Die Antwort ist einfach, wenngleich für viele bedauerlich: Das Schalenggenrennen entfällt. Zu schwierig wäre die neue Terminfindung, zu umfangreich die erneute Vorbereitung. Doch oft haben die Kappeler als Veranstalter des größten Schalenggenrennens Glück. „Ich nenne unsere Strecke klein Sibirien“, erklärt Allgayer. „Die Abfahrt liegt am Schattenhang, sprich, es kann rundum grün sein und wir machen trotzdem noch unser Schalenggenrennen.“ Und weil es nicht nur um Spaß geht, sondern vor allem um ein Stück Allgäuer Geschichte, fahren bei jedem Rennen einige „Original Schalenggar“ mit Heu und Brennholz auf der Ladefläche ins Tal und erinnern an die beschwerlichen Transporte vergangener Zeiten.

Anfahrt:

Von der B 309 abbiegen in die Kappeler Straße.

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